„Ich dachte mir, das sind die Bäckereien. Ich hatte gehört, da wurde Tag und Nacht Brot gebacken. Es war ja ein großes Lager.“
Den Rauch der Krematorien von Auschwitz mit dem Rauch von Bäckereien zu verwechseln – eine unerträglich zynische und menschenverachtende Aussage eines Zeugen – ist nur eine von vielen erschütternden Äußerungen, mit denen der Film ‚Die Ermittlung‘ von Regisseur RP Kahl sein Publikum konfrontiert. Das Filmwerk, basierend auf dem gleichnamigen Dokumentartheaterstück von Peter Weiss, legt die Grausamkeit und das Ungeheuerliche des Holocausts in aller Kälte offen. Im Oktober 1965 wurde das Stück als Mahnung an fünfzehn ost- und westdeutschen Bühnen gleichzeitig uraufgeführt. Nun, Jahrzehnte später, hält die Verfilmung diese schonungslose Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit lebendig und zwingt die Zuschauerschaft, sich dem anmaßenden Zynismus der Täter zu stellen, der den Abgrund menschlicher Verrohung offenbart.
Ein Gerichtsprozess über Auschwitz auf der Bühne
Die sogenannten Auschwitz-Prozesse waren Gerichtsverfahren in Polen, Deutschland und Österreich, die darauf abzielten, die nationalsozialistischen Verbrechen im Konzentrationslager Auschwitz strafrechtlich zu verfolgen und aufzuarbeiten. Die bedeutendsten dieser Prozesse waren die Frankfurter Auschwitz-Prozesse, die vor dem Schwurgericht in Frankfurt am Main verhandelt wurden. Der erste Prozess fand von 1963 bis1965 statt unter der offiziellen Bezeichnung „Strafsache gegen Mulka und andere“. Robert Mulka war als Adjutant des Lagerkommandanten wie sein Vorgesetzter Rudolf Höß (er wurde in Polen vor Gericht gestellt und 1947 zum Tode verurteilt) für die Ermordungen in Ausschwitz verantwortlich. Der Prozess dauerte 20 Monate und war mit 22 Angeklagten besonders umfangreich. Zudem wurden 359 Zeuginnen und Zeugen gehört, darunter 248 ehemalige Auschwitz-Häftlinge. Unter den Zuhörerinnen und Zuhörer befand sich auch der Schriftsteller Peter Weiss, der 1934 mit seiner Familie aus Deutschland floh und ab 1939 in Schweden lebte. Seine persönlichen Beobachtungen sowie die damaligen Berichterstattungen des FAZ-Journalisten Bernd Naumann während der Verhandlungstage bilden die Grundlage für das Theaterstück „Die Ermittlung“, das außerdem den Zusatztitel „Oratorium in 11 Gesängen“ trägt. An der Rampe des KZ-Bahnhofs beginnt der erste Gesang, bei den Feueröfen endet der letzte Gesang. Die 11 Gesänge symbolisieren die Leidensstationen der Opfer. Letztlich entscheiden SS-Blockführer nach der Ankunft der Menschen in Viehtransportwagen, durch eine Selektion, über ihr Schicksal: Die Einen sterben unverzüglich qualvoll in den Gaskammern, die Anderen dahinsiechend grausam in den Arbeitsbaracken.
Opfer- versus Täterperspektive
Statt den Horror des Holocausts in Bildern zu zeigen, müssen wortstarke Dialoge genügen, um dem Publikum die unbeschreiblichen Gräueltaten nachvollziehbar zu machen. Diesem Konzept von Peter Weiss bleibt der Regisseur RP Kahl treu. Das Kinopublikum wird selbst Teil der Gerichtsverhandlung, die sich in einem minimalistischen Bühnensetting abspielt, das mit Scheinwerfern ausgestattet an eine TV-Talkshow-Kulisse erinnert. Auf der Tribüne, in selbstgefälligen Posen, sitzen die Angeklagten. Rechts und links haben an Schreibtischen Ankläger (Clemens Schick) und Verteidiger (Bernhard Schütz) ihre Plätze. Im Zentrum, grell ins Licht gesetzt, ein Podium für die Zeuginnen und Zeugen. Nacheinander treten die Aussagenden vor den Richter (Rainer Bock). Aufrecht und in kerzengerader Haltung sprechen sie ins Standmikrofon. Die Verbrechen werden detailliert von den Opfern geschildert.
Ein KZ-Überlebender beschuldigt den deutschen SS-Rottenführer Baretzi (1919- 1988): „Baretzi kam mit dem Stock auf mich zu und schlug mich und die Frau. Was tust du mit dem Dreck da, rief er und gab dem Kind einen Fußtritt, so dass es 10 Meter fortflog. Dann befahl er mir: Bring die Scheiße hierher. Da war das Kind tot. […] Baretzi hatte auch einen Spezialschlag. Er wurde mit der flachen Hand ausgeführt, so gegen die Aorta. Dieser Schlag führte in den meisten Fällen zum Tod.“ Darauf antwortet der Angeklagte: „Der Zeuge sagte doch eben ich hätte einen Stock gehabt. Wenn ich einen Stock hatte, dann brauchte ich doch nicht mit der Hand zu schlagen. Und wenn ich mit der Hand schlug, brauchte ich doch keinen Stock. Herr Vorsitzender, das ist Verleumdung. Ich hatte überhaupt keinen Spezialschlag.“ Auf der Tribüne nicken sich die Angeklagten zustimmend zu und lachen dabei.
Die Kontrastierung der Gegenreden der Angeklagten mit den Opferberichten entlarven die Monstrosität und Skrupellosigkeit der Taten. Ihre Verharmlosungen, Beschwichtigungen und formelhaften Beteuerungen zeigen, wie die vollständige Entmenschlichung im KZ-Lager zur alltäglichen Normalität wurde. Auch in den Dialogen wird die Verstrickung der Industrie in die Vernichtungspolitik der Nazis thematisiert. Besonders beharrlich hat sich hier die Verdrängung der Schuld gehalten, wie die aktuellen Diskussionen über Entschädigungen für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter noch immer deutlich machen.
Endlosschleife von unerträglichen Gräueltatenberichten
Vom Kinopublikum wird abverlangt, eine vierstündige Endlosschleife von unerträglichen Gräueltatenberichten zu ertragen, ähnlich wie die Opfer bei der Gegenüberstellung den Lügen, der Gleichgültigkeit und Gewissenslosigkeit ihrer Peiniger ausgesetzt sind. Eine Herausforderung bleibt allerdings die Filmdauer, insbesondere wenn man eine breite Zuschauerschaft ansprechen möchte. Da das Werk ausschließlich aktives und konzentriertes Zuhören erfordert – eine Fähigkeit, die in der heutigen, von visuellen Reizen dominierten Gesellschaft zunehmend verloren geht – besteht die Gefahr, dass er junge Menschen nicht erreicht. Der Filmschaffende RP Kahl ist sich dieses Umstands bewusst, wie er selbst bei der Vorführung des Films am 27. Juli 2024 – im Berliner Kant Kino betonte. Er kündigte an, dass eine TV-Produktion in 11 Folgen geplant ist, ergänzt durch pädagogische Lernmaterialien. Eine kluge Entscheidung, denn an jenem Tag der Filmvorführung dominierte die Generation der Babyboomer nahezu vollständig den Kinosaal.
Das Drama „Die Ermittlung“ von Peter Weiss ist nicht nur eine Darstellung der Schreckenstaten der SS-Führer, sondern auch eine schonungslose Demaskierung der Verbrechen durch die Täter selbst. Die Aufführung macht unmissverständlich klar, dass die Hauptakteure der SS wie Höß, Eichmann, Himmler und Bormann nur die Spitze des Eisbergs waren. Sie rückt besonders die vielen anderen Täter ins Zentrum, die in der offiziellen Gerichtsprozessbezeichnung „Strafsache gegen Mulka und andere“ lediglich als „Andere“ bezeichnet werden. Diese „Anderen“ – Mitglieder der SS-Wachmannschaften und Lagerärzte, die die Mordmaschinerie in Auschwitz am Laufen hielten – stehen im Mittelpunkt der Handlung. Sie verlieren im Stück ihre Anonymität: Namen wie Wilhelm Boger, Stephan Baretzki, Hans Stark, Oswald Kaduk und Josef Klehr… werden offen genannt und ins Gedächtnis gerufen.
Darüber hinaus ist es lohnenswert, einen Blick auf die gleichnamige Schwarz-Weiß-Verfilmung des NDR aus dem Jahr 1966 zu werfen. Diese Adaption vermag den damaligen Zeitgeist, geprägt von unreflektiertem und selbstverständlichem Gehorsam gegenüber Autoritäten, mit bemerkenswerter Authentizität einzufangen. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass die Verfilmung in der Zeit ihrer Entstehung angesiedelt ist und somit die Gesellschaft der 60er Jahre unmittelbar widerspiegelt. Obgleich einem brillanten Schauspielensemble kann RP Kahls Film in diesem Vergleich lediglich mit einem stilisierten Nachspiel der Epoche punkten.
Ein ernüchterndes Ermittlungsende
„Die Ermittlung“ schließt mit der selbstgerechten Aussage des Angeklagten Mulka ab:
„Heute, da unsere Nation sich wieder zu einer führenden Stellung emporgearbeitet hat, sollten wir uns mit anderen Dingen befassen als mit Vorwürfen, die längst als verjährt angesehen werden müssten.“
Diese Verdrängungsmentalität spiegelte sich leider auch in den Urteilen der Frankfurter Auschwitz-Prozesse wider. Erschütternd ist die rückblickende Erkenntnis, dass viele Nazi-Verbrecher-innen völlig ungestraft blieben und nie für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft gezogen wurden. Im Abspann des Films wäre neben der Angabe der Opferzahlen von Auschwitz zusätzlich eine konkrete Auflistung der Urteile wünschenswert gewesen, da die Mehrheit von ihnen nicht nur milde, sondern vor allem entwürdigend für die Leidtragenden im Verhältnis zu den begangenen Schwerverbrechen waren. Ein paar ausführlich erklärende Worte zu Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, dessen Hartnäckigkeit es zu verdanken ist, dass die Mörder überhaupt vor Gericht gestellt wurden, vermisst man ebenfalls.
Warnung vor den menschlichen Abgründen
Peter Weiss‘ Drama geht weit über die historische Aufarbeitung des Genozids an den Juden im Nationalsozialismus hinaus. Das Stück zeigt auf eindringliche Weise, wozu Menschen fähig sind, wenn sie andere Menschen entmenschlichen und als unwertes Leben deklarieren. In solchen Momenten können die grausamsten und unmenschlichsten Handlungen – von brutaler Gewalt bis hin zu sadistischer Folter – als gerechtfertigt betrachtet und skrupellos ausgeführt werden. Dies wird eindrücklich durch die Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit belegt, die in den Aussagen der Beschuldigten und befragten Mitwisser zum Ausdruck kommt. Ferner verdeutlicht es, dass die Mechanismen, die im Dritten Reich zur systematischen Vernichtung führten, auch heute noch in verschiedenen Konfliktzonen und Diktaturen weltweit Anwendung finden.
„Die Ermittlung“ bleibt eine zeitlose Warnung vor den Abgründen, zu denen Menschen fähig sind, wenn sie den Respekt vor dem Leben anderer verlieren. Das verfilmte Bühnenwerk von RP Kahl leistet einen wertvollen Beitrag, diese bittere Wahrheit lebendig zu halten, und appelliert an die Nachwelt, eine kritisch-reflektierte Haltung gegenüber gesellschaftlichen Missständen zu bewahren, Zivilcourage zu zeigen und sich mit Entschlossenheit für die Rechte und Würde jedes Menschen einzusetzen. C.J.F. Schiltz
Quellenverzeichnis: zitierte Textpassagen zu finden in: Peter Weiss (2020): Die Ermittlung, 20. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1965, S. 15, 25, 198f.