Denken lernen, statt Wissen pauken!

„Schule missbraucht den Geist der Kinder“, laut Sergio, dem Lehrer (dargestellt von Eugenio Derbez) im Film "Radical" von Christopher Zalla, der auf dem Sundance Film Festival mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Diesen Standpunkt prägt die Erzählung über die José Urbina-López-Grundschule in Matamoros, die auf realen Ereignissen basiert. Eine Behebung der Dysfunktionen des Schulsystems ist durch ein wertschätzend engagiertes Handeln des Lehrpersonals dennoch möglich, so die Botschaft der Narration.

In wohlhabenden Ländern wird mittlerweile der Aufruf, Schulkinder vor dem Bildschirmkonsum zu schützen, lauter, da übermäßiger Gebrauch zu massiven Aufmerksamkeitsstörungen führt. Nach der ersten Euphorie, dass digitaler Unterricht bessere Lernerfolge garantiert, werden die Geräte nun wieder aus dem Unterricht verbannt oder sollen zumindest nur noch in begrenztem Umfang zum Einsatz kommen. Klassische Lernformen wie traditionelle Besuche in Schulbibliotheken sind wieder im Trend, um die Kreativität der Lernenden anzuregen. In ärmeren Regionen hingegen gibt es oft weder Computer noch gut ausgestattete Bibliotheken – die Regale stehen leer und verstauben. Die sozialen Realitäten könnten nicht unterschiedlicher sein. Der Film „Radical“ erzählt von einer Schule, die keinen Zugang zu Informationen hat, da es weder Computer noch eine Internetverbindung gibt. Die Schülerinnen und Schüler wurden im Vorfeld aufgegeben, und bewilligte Fördergelder für Schulprojekte verschwinden in den Taschen korrupter, hoher Politiker.
Drehort ist Matamoros, eine Kleinstadt an der Grenze zu den USA im Bundesstaat Tamaulipas, der als eines der gewalttätigsten Gebiete Mexikos gilt. Die Kinder wachsen dort unter schwierigen Bedingungen auf: Kriminalität und tiefe Armut bestimmen ihren Alltag. Perspektiven, dieser Misere zu entkommen, gibt es kaum, da die Zukunft der Schülerinnen und Schüler oft schon vorgezeichnet ist. Mädchen helfen im Haushalt und kümmern sich um jüngere Geschwister oder unterstützen ihre Eltern beim Geldverdienen auf Müllkippen. Für Schule und Weiterbildung bleibt hier kaum Zeit. Es gibt keinen Ausweg aus dieser Armutsspirale. Manche Jungen werden Drogendealer, inspiriert durch ältere Brüder, und werden schließlich zu Leibeigenen der Drogenkartelle.
Das Publikum erfährt zu Beginn des Films, dass der Grundschulbesuch zwar verpflichtend und kostenlos ist, dennoch besuchen mehr als die Hälfte der Kinder nach der 6. Klasse keine weiterführenden Schulen. Laut Schülerleistungstests schneidet die Grundschule besonders schlecht ab. „Wir dürfen unsere Schützlinge nicht im Stich lassen", betont der Schulleiter Chucho (gespielt von Daniel Haddad). Der neue Lehrer Sergio nimmt sich diese Worte zu Herzen – ernster, als Chucho es zunächst erwartet hat…
Er tritt sein Amt an und bricht mit allen Konventionen: Anstelle von Strenge und Disziplin setzt er auf Freiheit, Empathie und Vertrauen in das Potenzial seiner Schülerinnen und Schüler. Der Lehrer versucht, durch entdeckendes Lernen anstelle reiner Instruktion zu den Kindern Zugang zu finden. Er betont, dass der Bildungsprozess mit Fragen beginnt: Anstatt Unterrichtsinhalte einfach zu präsentieren, sollten Lehrkräfte den Kindern dabei helfen, sie durch Fragen und Erklärungen zu erkunden und zu verstehen. Zum Beispiel können Kinder durch praktische Aufgaben wie die Konstruktion eines Modells erfahren, warum ein Boot auf dem Wasser schwimmt und nicht sinkt, indem sie physikalische Prinzipien selbst entdecken. Der Lehrer bekräftigt somit die Bedeutung der Förderung und Unterstützung von Talenten. Er zeigt, wie wichtig es ist, als Lehrperson die Perspektive der Lernenden einzunehmen.
Auch wenn wir wissen, dass der Weg zum Schulerfolg oft steinig und mühsam ist und moderne Unterrichtsmethoden nicht immer automatisch wirken, vermittelt der Film den Lehrkräften eine positive Perspektive und hebt die Wichtigkeit dieses Berufs hervor. Lehrerinnen und Lehrer sind die treibende und motivierende Kraft, deren Bemühungen sich auszahlen, wenn aus dem Zwang des Lernens Neugierde wird, etwas selbst zu entdecken und auf diese Weise Fähigkeiten schließlich freigelegt werden.
Obgleich zwar es nicht für jede und jeden ein Happy End gibt, trägt Engagement zumindest dazu bei, die Lebensbedingungen für einige zu verbessern. In diesem Sinn betont Regisseur Christopher Zalla die Notwendigkeit, Kindern Raum zu geben und ihre Lernreise zu unterstützen, damit sie selbst ihr Potential erkennen. Paloma Noyola Bueno (dargestellt von Jennifer Trejo) beispielsweise träumt von der Astronomie, obwohl sie in einer Welt aufwächst, in der das Sammeln von Müll zum Lebensalltag gehört. Der wahre Sergio Juárez Correa entdeckte durch seine eigenwilligen Lernmethoden tatsächlich ihre außergewöhnliche mathematische Begabung und förderte sie auf ihrem Bildungsweg, was entscheidend zu ihrer akademischen Laufbahn beitrug.

Die schauspielerische Leistung von Eugenio Derbez, der nicht aufhört, an seine Schulklasse zu glauben, überzeugt durch seine natürliche Haltung, Kindern auf Augenhöhe zu begegnen, anstatt sie in eine Hierarchie zu zwängen. Das gilt ebenso für den Darsteller Daniel Haddad als Schulleiter Chucho. Der Umgang dieses Lehrers mit den Kindern inspiriert selbst ihn, der zwischen der korrupten Schulbehörde und diesem neuen Esprit hin- und hergerissen ist, sich aber von den frischen Ideen mitreißen lässt und letztlich Sergios Komplize wird.
Außerdem beeindruckt die Authentizität und Ungezwungenheit der Kinder (Jennifer Trejo, Mia Fernanda Solis, Danilo Guardiola) derart, dass man bereit ist darüber hinwegzusehen, dass die Umsetzung moderner Lernmethoden im Film allzu sehr vereinfacht erscheint. Zallas „Radical“ wirkt daher weder kitschig noch unglaubwürdig. Die Stärke des Werks liegt darin, dass es trotz trauriger Ereignisse und unerfüllter Erwartungen nicht im Elend verharrt, sondern die Hoffnung in den Vordergrund stellt.
Der Film beschäftigt sich mit der Frage, wie Schule Sinn stiften kann, liefert eine Ohrfeige an das traditionelle Schulsystem und ermutigt Lehrende wie Lernende.
C.J.F.Schiltz 2024
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